Max Neuhaus

2007
Ulrich Look, Das Time Piece bei der Synagoge von Stommeln, 2007 (German)

Ulrich Loock

Das Time Piece bei der Synagoge von Stommeln

Die Werke von Max Neuhaus sind aus Tönen gemacht, die er „baut“ in Beziehung zu dem, was er an der Stelle oder in der Gegend hört, die für eine neue Arbeit vorgesehen ist. Keines seiner Werke entsteht „aus dem Nichts“. So kehrt er immer wieder zu dem Moment im Jahr 1966 zurück, als er seine brilliant begonnene Karriere als Perkussionist abbricht: Einigen Freunden stempelte er das Wort „Listen“ auf die Handfläche und forderte sie auf, mit ihm zusammen einen Gang durch die Stadt zu machen und auf alle vorhandenen Geräusche zu achten. Zu Beginn der Konstruktion eines neuen Werkes von Max Neuhaus sind nur die Geräusche der Umgebung zu hören, sei es das Rauschen des Windes in den Bäumen eines Parks, sei es der Lärm eines grossstädtischen Verkehrsknotenpunktes – dann, bei fortschreitender Ausarbeitung des Stückes, ist es ein elektronisch erzeugter, in die jeweilige sonore Umgebung hineingesetzter und mit ihr zusammen zu hörender Ton, der zunehmend modifiziert und verfeinert wird, bis er einer Vorstellung entspricht, die nicht als Entwurf, sondern nur als Versuch und Echo realisiert werden kann.

Die Sound Works von Neuhaus sind keine Musik. Von Musik lässt sich (unter anderem) sagen, sie bestehe in der Gestaltung von Zeit mittels Tönen, die in besonderer Weise zueinander gesetzt sind. Ausgerechnet ein Werk, das wesentliche geschichtlichen Vereinbarungen zur Musik in Frage stellt, 4’33’’ von John Cage, ist grundlegend bestimmt durch zeitliche Abmessung, festgehalten in einer Partitur. Organisierte Zeitlichkeit enthebt die Musik dem Kontinuum der unablässig sich verändernden Geräusche und bildet einen Zeit-Raum, eine räumlich und zeitlich begrenzte Zone, in welche der Hörer eintaucht, von der er distanzlos umgeben ist und der er sich nicht ohne weiteres verschliessen kann. Der physiologische Unterschied zwischen Ohr und Auge reflektiert die Differenz zwischen Gegenständen des Hörens und des Sehens – letzteren sieht sich das Subjekt gegenüber, wie es einem Ton nie gegenübersteht. Der Philosoph Peter Sloterdijk traut es der Musik zu, genau indem sie organisierte Töne in die Welt setzt, die uns umgeben und uns einnehmen, uns aus der „Welt als Lärmtotalität“ zu entführen und uns zu erinnern an die „archaische Euphonie des vorweltlichen Innen“, an den Wohlklang der mütterlichen Geräusche, die zu hören unserer unvergleichliches Privileg war zur Zeit der vorgeburtlichen Schwebe.

Anders als die Musik setzt Max Neuhaus in seinen Place Works einen einzigen Ton in die vorhandene sonore Umgebung, der, auch wenn er eine schwingende innere Komplexität hat, keine zeitliche Entwicklung durchmacht. Die Zeit dieses Tones ist die Dauer, die keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. So bestimmt Neuhaus einen tönenden Bereich mit Grenzen, die avancierte technische Mittel ihm scharf zu ziehen erlauben. An die Stelle der zeitlich verfassten Musik setzt er den „Ort“ eines Tons. Insofern der ständige Ton dieses Ortes seine Herkunft hat bei dem Lärm oder dem Rauschen, mit dem er sich seinerseits verbindet, gibt es im Werk von Max Neuhaus nicht die Überheblichkeit der Musik gegenüber dem Vorhandenen der Geräusche, auch nicht die Faszination durch Lärm und Stille, die avancierte Musik – Russolo und Cage – zu inkorporieren trachtet. Der Ton eines Werkes von Neuhaus gehört zu den Geräuschen der Umgebung, wie auch immer sie beschaffen seien, von denen er sich zugleich unterscheidet – manchmal allerdings so wenig nur, dass er kaum eigens wahrzunehmen ist oder für ein „natürliches“ Umgebungsgeräusch gehalten wird. Aufwändig konstruiert, blendet der Ton die Geräusche nicht aus, sondern versieht sie mit einer besonderen Qualität, die Neuhaus als ihre sonore „Einfärbung“ bezeichnet.

Die Bildung eines Ortes gehört zu den entscheidenden Anliegen der Skulptur der sechziger Jahre, einer Skulptur, die nicht mehr als Form oder Struktur im Verhältnis eines Objektes dem schauenden und sich bewegenden Subjekt gegenüber stehen will. Doch im „erweiterten Feld der Skulptur“ (Rosalind Krauss) rechnen die Labyrinthe, Flächen aus Metallplatten, Stahlwände und Aufschüttungen in der Wüste alle mit dem Subjekt-Körper als solider Einheit und fordern ihn in gesteigertem Masse, sich seiner selbst zu vergewissern. Der Ort des Werkes von Neuhaus hingegen, frei von jeder körperlichen Masse, weder Musik noch Skulptur, verspricht dem Subjekt Entlastung vom Zwang zur Selbstbehauptung. Wir begeben uns hinein in eine tönende Zone, so wie wir eintauchen in den Zeit-Raum der Musik, ohne aber den alltäglichen Geräuschen enthoben zu sein. Und ihnen doch enthoben sind, indem sie uns, wenn wir auf den gebauten Ton horchen, mit diesem zusammen, eingefärbt, zu Ohren kommen, wie wir sie nie zuvor gehört haben. Der Unterschied kommt dadurch zustande, dass die Geräusche nicht mehr nur vorhanden sind, unerwünscht, aufdringlich, eine Störung dessen, woran uns gerade liegen mag, sondern dass sie mit dem Ohr gesucht werden, als besondere Sensationen, reiche Angebote einer verachteten Welt. Die Rede ist von der eigentümlichen Erfahrung einer immanenten Transzendenz. Wir trennen uns von der Welt, die bestimmt ist durch Lärm, den täglichen Verkehr, das Rauschen der Bäume, da sie uns fremd und unwillkommen ist, wenn wir auch gleichzeitig bestrebt sind, uns in ihr zu entfalten. Wir entfernen uns nicht aus ihr. Wir befinden uns an einem Ort, an dem diese Welt transformiert ist, an dem wir selbst in einen eigenartigen Schwebezustand geraten, den Tönen und Geräuschen hingegeben wie in einer Trance, da wir nichts anderes wollen, als hören, was es zu hören gibt, dem Ton des Werkes, dem Verkehrslärm und dem Rauschen der Bäume verfallen. Die Dauer dieser Trance ist Sache unserer eigenen Zeit, solange, bis wir weitergehen. Sie könnte endlos sein, anders, als wenn wir Musik hören, die unsere Zeit formt und begrenzt.

Einen anderen Typ seiner Arbeit nennt Max Neuhaus Time Pieces. Es gibt keinen stehenden Ton, und Time Pieces schaffen keinen abgegrenzten, wohldefinierten Ort, an den ein Hörer sich willentlich begibt, wenn er ihn nicht zufällig entdeckt. Der Ton eines Time Piece überfällt uns, wo auch immer wir uns in seiner Reichweite befinden. Oder vielmehr: Die plötzliche Abwesenheit des Tons überfällt uns. Der Ton eines Time Piece setzt unmerklich leise ein, schwillt an und bricht wenige Minuten später ab. Erst in diesem Moment wird er eigentlich wahrgenommen, als „Nachbild“, wenn er fehlt, als Moment einer unerwarteten Stille. Mit dem Time Piece erwachen wir aus dem zeitlos entrückten Zustand des Horchens auf den Ton eines Place Work. In einem einzigen Moment der Stille werden wir wieder in die Welt der alltäglichen Geräusche gerissen, der zeitliche Ablauf setzt wieder ein. In der Tat hat Max Neuhaus seine ersten Erfahrungen dieser Art gesammelt, als er einen Wecker konstruieren wollte, dessen Signal im Entzug eines Tons bestehen sollte. Der Moment der Stille, das Fehlen des abgebrochenen Tons koinzidiert mit der Wiederkehr aller Geräusche ohne den Ton, der ihnen mit zunehmender Lautstärke hinzugefügt worden war. Befreit von seiner wachsenden Präsenz, hören sie sich an wie gereinigt. Das ist das Wunderbare an der Welt der Geräusche, zu der uns ein Time Piece erweckt, dass sie verklärt erscheint. Es ist genau dieselbe Welt wie immer, doch sie strahlt wie nie zuvor. So ist das Aufwachen aus der entrückten Trance am tönenden Ort des Werkes die Hinwendung zu einer Welt, die für einen Moment all das Widerwärtige der kontinuierlichen, zurüberhörten Gewohnheit gewordenen Geräusche aufgegeben hat, das Peter Sloterdijk mit dem Begriff der Lärmtotalität bezeichnet. Wir sehnen uns nach keiner anderen als dieser neuen, frischen Welt.

Die neue Arbeit bei der Synagoge von Stommeln, aus Respekt nicht im Innenraum platziert, sondern aussen, im Bereich um die Synagoge herum, gehört zu den Time Pieces. Der Künstler beschreibt den Ton dieses Werkes folgendermassen: “Bei dem Stommeln Time Piece ist mir etwas gelungen, was ich immer wollte: einen Ton machen, den man wirklich nur hört, kurz bevor er verschwindet. In den letzten Wochen habe ich mit den komplexen Geräuschen des Verkehrs gearbeitet, der sich über den kleinen Platz neben der Synagoge bewegt und eine sonore Textur gebaut, die diese Geräusche transformiert. Sie vermischt sich mit den Verkehrsgeräuschen und vollzieht sie nach; sie verändert sich, wenn jene sich verändern. Diese Textur besteht aus tiefen, kraftvollen Anteilen, die eine wunderbare Anmut besitzen. Wenn sie lauter wird, erkennt man, dass in ihr eine Harmonie verborgen ist. Nur gegen Ende tritt der Ton hervor, zeigt sich und verschwindet.

Frühere Time Pieces hatte Neuhaus so organisiert, dass der Moment der Stille zu geläufigen Uhrzeiten eintrat, zur halben Stunde, zur ganzen Stunde. Eine offensichtliche Referenz sind die Kirchenglocken, die zu festgelegten Zeiten zum Gottesdienst rufen und dazu beitragen, überall dort, wo sie zu hören sind, ein Gefühl der Gemeinschaft zu bilden – und damit auch den Ausschluss von denjenigen aus dieser Gemeinschaft zu bekräftigen, die nicht derselben Religion, demselben Volk angehören. Vorgegebener Ort für Neuhaus’ Arbeit in Stommeln aber ist das ehemalige jüdische Gebetshaus, eine der wenigen Synagogen in Deutschland, die den Nazi-Terror baulich unbeschadet überstanden haben,da sich die jüdischen Gemeinde 1937 gezwungen sah, sie an einen Landwirt zu verkaufen, der das Gebäude als Schuppen nutzte. So hat Neuhaus sich entschlossen, sein Time Piece zwölf Mal am Tag zum Tönen zu bringen, entsprechend der Einteilung der Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in zwölf rituelle Stunden – „Zmanim“ –, wie es das jüdische Gesetz vorsieht. Da die Zeitpunkte von Sonnenauf- und -untergang sich das ganze Jahr hindurch verschieben, weichen die Zmanim und damit auch die Zeiten, an denen das Werk von Neuhaus zu hören ist, von der allgemeinen Uhrzeit an, welche auch die christlichen Gottesdienstzeiten regelt. Auf diese Weise wird das Time Piece zu einem Zeichen der Achtung für das vernichtete jüdische Volk, sein Gesetz und seine Religion. Neuhaus sagt, er habe dem leeren Haus der Andacht eine Stimme gegeben. Dem Haus eine Stimme geben, in dem seit 70 Jahren die Gesänge nicht zu hören gewesen sind, mit einem Ton, der, dem Verkehrslärm entnommen und ihm zurückgegeben, abbricht zur Stunde des Gebetes. Überlagerung des Gedenkens an die Stimmen, die von den Nazis zum Verstummen gebracht wurden und des Aufwachens zu einer verklärten Welt der Geräusche. So verschiedene Momente der Stille. Es ist Zeichen der Stärke und nicht der Schwäche eines Kunstwerkes, wenn es nicht möglich ist, seinen Widerhall in allen Einzelheiten begrifflich nachzuvollziehen. Was das Time Piece von Neuhaus betrifft, ist die Verbindung mit dem jüdischen Gebetshaus eine Sache der Umstände. Strukturell aber ist sein Werk von vornherein daraufhin angelegt, die Umstände zu würdigen.